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Die Welt als Familienalbum
05.11.2001
Süddeutsche Zeitung Mit „Nord-Ost“, dem ersten Moskauer Kommerz-Musical, feiert das Autorenduo Aleksej Iwaschtschenko und Georgij Wassiljew Russlands grandiose Geschichte
Es ist ein Flugzeug, das in Moskau seit Monaten die Aufmerksamkeit auf sich zieht. „Jeden Abend landet auf der Bühne ein Bomber aus dem Zweiten Weltkrieg in seiner natürlichen Größe“, heißt es auf Plakaten. Sie werben mit ungewollter Aktualität für „Nord-Ost“, das erste russische Musical, das in Broadwaymanier seit seiner mitreißenden Premiere auf einer Bühne gespielt werden soll – so lange, wie das Publikum es wünscht. Die Werbung ist älter als der 11.September, und die Pläne für diese russische Produktion der Superlative erst recht.
Seit Beginn der neunziger Jahre träumten die Autoren Aleksej Iwaschtschenko und Georgij Wassiljew davon, ein Musical mit westlicher Technologie ins Land zu holen. Sie sind seit 20 Jahren als Sängerduo bekannt, haben mehr als 150 Lieder komponiert sowie mehrere Musikshows entwickelt. Der ursprüngliche Plan, das Erfolgsmusical „Les Miserables“ ins Russische zu übertragen, scheiterte an dem hohen Preis für die Rechte. Die Eintrittstickets wären unrealistisch teuer geworden.
Zwei Kapitäne
Auch bezeichnen die beiden den reinen Import eines westlichen Musicals inzwischen als „Broadway für die Armen“, weil das russische Leben noch nicht anglo-amerikanisches Niveau erreicht habe und weil es im Land noch nicht hinreichend universelle Schauspieler gebe. Nicht zuletzt war der Ehrgeiz der beiden Sänger und Komponisten entfacht. Statt Victor Hugo kam Wenjamin Kawerin zum Zuge. Seinen Roman „Zwei Kapitäne“, den schon in Sowjetzeiten Generationen von Jugendlichen verschlungen haben, übertrug Iwaschtschenko in musikalische Lyrik.
Die Handlung muss man in Russland niemandem erzählen. Das zweifach verfilmte Buch gehört zur Pflichtlektüre in den Schulen. Der in den Revolutionswirren verwaiste Junge Sascha Grigorjew verliebt sich in Katja Tatarina, die Tochter eines berühmten Kapitäns, dessen Segelschiff 1913 auf der Suche nach neuen Wegen durch das nördliche Polarmeer verschollen ist. Sascha wird Pilot, um den Spuren der Expedition nachzugehen, muss als Flieger im Zweiten Weltkrieg an die Front. Derweil macht sein Jugendfreund Romaschow Karriere als Bürokrat und versucht, Katja für sich zu gewinnen. Nach jahrelangen Intrigen siegen schließlich Liebe und Wahrheit.
Es war der Stoff, den Wassiljew und Iwaschtschenko suchten: „Er enthält Liebe und Hass, Heroismus und Verrat, Zärtlichkeit und Energie, Romantik und Glaube an Gerechtigkeit.“ Nur wozu heute Patriotismus, Heldentum, unendliche Treue und eine Eismeerexpedition längst vergangener Zeiten? Warum kein sensationelleres Thema, etwa eine Intrige um Stalin oder Rasputin? Nicht wenige fragten sich das vor der Premiere. „Wir spüren, dass Interesse besteht an einem mächtigen, lyrischen, patriotischen und schönen Schauspiel“, erklärt Wassiljew, der nicht nur Sänger, sondern seit der Öffnung auch ein erfolgreicher Geschäftsmann ist. „Die Menschen wollen etwas Gutes über ihr Land hören.“
Für die für russische Verhältnisse astronomischen Kosten von vier Millionen Dollar mussten Investoren gefunden werden. Es entstand ein dreistündiges Musical in zwei Akten, mit 39 Episoden und 180 Rollen. In langer Auslese wurden 35 Schauspieler und 38 Kinder ausgesucht. Viele durften nach London reisen, um die Musicals im West End mit eigenen Augen zu sehen, bevor es in Moskau an die Einstudierung ging. Die russische Producerfirma Link stand in engem Know-how Austausch mit der britischen Cameron Macintosh Ltd., der Produzentin von Welthits wie „Cats“, „Das Phantom der Oper“ und „Les Miserables“. Das Problem einer permanenten Bühne löste die Stadt Moskau. Sie stellte den Kulturpalast einer Kugellagerfabrik zur Verfügung. Umbenannt in „Theaterzentrum an der Dubrowka“, birgt er seither die aufwendige Musicalmaschinerie.
Beim Betreten des Theaters spürt man eine seltsame Mischung aus nüchterner Solararchitektur und West-End-Vermarktung. Über zwei Etagen begleiten nautische Zeichnungen vor blauem Meeresgrund den Zuschauer, der auf dem Weg zu seinem Sitz „Nord-Ost“Souvenirs kaufen kann, bedruckte T-Shirts, Mouse-Pads und natürlich den Roman selbst. Die Bühne ist russischer Broadway. Spielend gelingt es, die Handlung, die sich über 30 Jahre und Tausende von Kilometern erstreckt, die menschlichen Reifungsprozesse und historischen Umbrüche schlicht zu entwickeln. Fünf strahlenförmig ausgefahrene, bewegliche Rampen vor einer Riesenleinwand verwandeln sich in Hafenpiers, Eisgletscher, Bahnhofsgleise, Landepisten, versinnbildlichen ganze Lebenswege.
Vor ihnen läuft, tragisch-romantisch-humorvoll, die russische Geschichte ab, in vom Publikum oft mit spontanem Beifall bedachten Szenen: ein Straßenbahnwrack aus den 20er Jahren, dem zerlumpte Waisenkinder entsteigen; das im Schneetreiben tanzende bunte Händlervolk der ersten ökonomisch noch freieren NEP-Jahre; steppende Kriegspiloten ohne jegliche martialischen Anklänge; eine aller Intimität beraubte, schwatzsüchtige Kommunalwohnung; ein Quintett abweisend im Takt eines Sowjetmarsches tippender Sekretärinnen;das hoffnungslose Schmutzig-Grau der Hungerwinter im blockierten Leningrad. ..
Nostalgie des Bardenlieds
„In dem Schauspiel wurde unsere Geschichte lebendig, unsere Art, sie zu fühlen, unsere melodische Empfindungsweise,“ schreibt der Kritiker der Iswestija. „Es hat etwas von einem Familienalbum: die Welt, die wir ja trotz alledem liebten“, heißt es in der Nowaja Gasjeta. „Die Musik ist eine erstaunliche Synthese aus russischer Klassik und Tango, städtischer Romanze und Jazz – und über allem die Nostalgie des Bardenliedes“, lobt die Literaturnaja Gasjeta, die das Musical als „Hammer der Saison“ anpreist.
Das Flugzeug ist dann doch nicht der Höhepunkt. Vielmehr endet das Musical mit einer Vision, die Sascha und Katja erleben. Da birst der Bühnenboden, schieben sich knirschend Eisschollen hoch, zwischen denen ein vereister Schiffsbug auftaucht. Dem Zuschauer aber ist alles andere als kalt ums Herz. „Ich habe gelacht und geweint, da lief das Leben unseres Landes ab, zu unserer Musik“, sagt eine ältere Dame. Trotz der langen Schlangen an den Garderoben sieht man überall nur lachende, beschwingte Gesichter. Viele aufgeregte Kinder und Jugendliche sind darunter. Paare tauschen zärtliche Gesten aus. Mancher summt eine der einprägsamen Arien vor sich hin. Auf dieses, das russische Publikum setzt das Musical. Denn anders als New York und London ist Moskau kein Touristenmagnet. Und zwei Jahre muss „Nord-Ost“ schon laufen, sechs Tage die Woche, um sich bezahlt zu machen.
MIRIAM NEUBERT
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